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Claus Bachs Bildarchiv: Der zweite Blick

24. April 2024 / Radio, Stadtzeit,Mediathek
Claus Bachs Bildarchiv, Foto: Claus Bach
Claus Bachs Bildarchiv, Foto: Claus Bach

Der zweite Blick oder: Die Gewalt des Augenblicks. Ein Farbfoto zeigt eine Person im ultramarinblauen Gewand, die an einer grauen Marmorwand kauert. Im diffusen Licht umschlingt sie mit ihren Armen und Händen ein schmales langes Bündel. Es ist in ein weißes Laken eingehüllt und auf den beigefarbenen Marmorboden gestützt. Sein oberes Ende umarmt sie mit beiden Händen. Ihr Kopf neigt sich in die Beuge ihres Arms und ist in ein ockerfarbenes Tuch eingehüllt. Dabei schmiegt er sich an das obere Ende jenes weißen Bündels, das mit einem Knoten zusammen gebunden wurde. Aus dem unteren Ende des Bündels ragen zwei kleine marineblaue Stoffteile heraus, die auf den beigefarbenen Marmorboden gestützt sind.
Was auf den ersten Blick wie eine rätselhafte textile Skulptur aussieht, entpuppt sich beim zweiten Blick als eine palästinensische Frau, die ein totes Kind in ihren Armen hält. Es ist ihre fünfjährige Nichte Saly. Auch deren Mutter und Schwester wurden nach dem Einschlag einer israelischen Rakete in ihr Haus in Chan Yunis im Gazastreifen getötet. Der Pressefotograf Mohammed Salem hatte die Aufnahme kurz nach dem Angriff am 17. Oktober 2023 für die Agentur Reuters gemacht. Und damit ein außerordentlich berührendes Sinnbild für das Leid der Bevölkerung in jener Region geschaffen.
Doch nicht nur das. Denn durch die situationsbedingte Anonymität entwickelt dieses Foto eine ungemein visuelle Eindringlichkeit und reicht weit über den fotografierten Augenblick hinaus. Es wirkt wie ein zeitgenössisches Mahnmal gegen alle Kriege der Welt und könnte zu einer Bildikone des frühen 21. Jahrhunderts werden. Und genau das ist das Besondere.
Der Fotograf Salem erhielt dafür den Preis des renommierten „World Press Photo Award". Sein Bild wurde Weltpressefoto des Jahres 2024. Die Jury-Vorsitzende Fiona Shields kommentierte das Bild wie folgt: „Es ist unbeschreiblich bewegend zu sehen und zugleich ein Argument für Frieden, das extrem stark ist, gerade wenn Frieden manchmal wie eine unmögliche Fantasie erscheint."

 

Dem ist nichts weiter hinzuzufügen.

 

Claus Bachs Bildarchiv: Der zweite Blick

Autor: nbv