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Claus Bachs Bildarchiv: Schwimmen nach Weimar

02. September 2020 / Radio, Stadtzeit,Mediathek
Claus Bachs Bildarchiv, Foto: Claus Bach
Claus Bachs Bildarchiv, Foto: Claus Bach

So hieß die gestrige One-man-Performance des Schauspielers Steve Karier im Rahmen des Kunstfestes auf dem Gelände der alten Feuerwache. Für 75 Minuten hatte sich der Akteur der Klassikerstadt verbal virtuos angenähert und dabei auch mit zwei Weimarer Bürgern auf seiner Bühne gesprochen. Auf sie war er durch einen Aufruf an die Bevölkerung Weimars gekommen, ihm ihre Geschichten zu schicken.
Ein davon stammt von dem verstorbenen Berliner Autoren Thomas Günther und erzählt über die Szene der Punks in Weimar Mitte der 1980iger Jahre. An dieser Stelle soll jene Kurzgeschichte unüblicherweise in vollem Wortlaut wiedergegeben werden. Sie nennt sich „Colorierter Schnee".


"Im Schatten Goethes wuchern die wildesten Verhältnisse. Rotten, Karo und Kamikaze haben eine Band gegründet. Schnauze voll vom Herumhängen. Immer nur Kotz-dich-aus-Feten stinkt zum GET NO. Sie proben den Aufstand hinter schalldichten Mauern, im Kinderzimmer des Bassisten. Die Wände sind vorsorglich mit Pferdedecken und Matratzen ausgelegt. Rotten drischt auf das Schlagzeug ein, daß die Stöcke auseinander fliegen. Und das gibt Krach, bevor es überhaupt anfängt. Einsehen muß er, er ist nicht KEITH Mondgesicht! Wer soll den Scheiß bezahlen, lautet die brisante Preisfrage. Ohne Bühne tobst du wie in Gummizellen, sagt Rotten entschuldigend. FUCK UP! Lizenz bekommt man nicht, weil die Stadt zu provinziell muffelt und sich jeder der drei auf seine individuelle Weise mit den Ordnungsgrandeln angelegt hat. Zuerst einmal müßten die zweiseitigen Behelfsausweise verschwinden.

Gute Führung und gute Laune werden vorausgesetzt! Doch jedem fehlt es an Lust, vor irgendeinem Hilfssheriff auf den Knien zu betteln. Schmuddlige Dokumente sind auch ein Markenzeichen. So verpufft das Gitarrenfeuerwerk zu Hause wie eine Rakete im Abwaschwasser. Mitunter spielt man auf kleinen Feten oder ganz ausnahmsweise zur Hochzeit eines Freundes im Geräteschuppen der LPG, aber es kommen immer die gleichen Typen zusammen.
Bei Kantenlatschern und Gegenfüßlern ist jeder bestens bekannt. Wenn Karo, am unauffälligsten aussehend, auf dem Revier eine geile Festlichkeit anmelden will, als Hausfest oder so, knallt die Frage nach der Musik wie aus der Pistole geschossen: Konserve oder Kapelle. Als Wortführer kann Rotten nicht länger an sich halten. Lautstark skandiert er aus dem Hintergrund: a-ca-pella, und der Oberförster antwortet: nach zehn ist Funkstille, sonst gibt's ne Anzeige. Das läuft wie Altöl die Ilm herunter – wo es doch um die stinknormale Abendstunde erst richtig losgehen könnte in OLD FASHING WEIMAR. Am Ende pissen die Gäste wieder ihr Bier in den Hausecken ab: nichts passiert, außer Herumnölen und Schimpfkanonaden.
Die Leute aufklatschen, nur noch das hilft, sagen die hirnrissigen Großmaulfrustis mit den geschorenen Schädeln und verrosteten Kuhketten um den Hals. Sie rasseln wie die Ochsen, sagt Karo beiseite, und strangulieren ihre eigenen Geistesblitze dabei. Alles Lattenkönige! So ungefähr verläuft das bis zum Morgengrauen hin: Diskussionen wie Wasserstandsmeldungen. Aus dem Sumpf schöpft man dann Lieder.
Die verrotzten Sprüche gedeihen als Blüten der Kälte. Es sind Texte aus der Stille und andere Würgemerkmale, in einem eisenden Ton herausgeschrien. Giftige Fledermäuse hacken in anhaltendem Crescendo den Amtsschimmel kaputt. Eulen tragen Rotten, Karo und Kami nach Soho. Das Gehirn tankt man erlebnissüchtig in Phonoschlachten auf. Es scheint sonnenklar: wenn
du auf Arbeit Assi tituliert vollgerüsselt wirst, bloß weil du als Mann einen Pferdeschwanz trägst, die Augenbrauen geschminkt hast und dich weigerst, abends in der Blaskapelle der freiwilligen Feuerwehr zu posaunen, bekommst du keine Sympathie für den Werktagsdschungel und die Heilsbotschaft einer pensionierten Zukunft. Allüren dieser Art können sich Spießer an die Vorhaut nageln. Da steht der MIDNIGHT RAMBLER näher.
Dabei haben die drei gewöhnliche Jobs. Karo verlegt Telefonkabel, Kamikaze ist Nachtwächter, und Rotten rotiert in der Messerfabrik, als Schleifer. Trotz verhinderten Aufstiegs in den Rummel des verachteten Ruhms scharen sie eine kleine Kultgemeinde um sich. Kit und Gam, die Klatschtanten der Szene, schneien immer häufiger zu den Proben herein und bringen interessierten Nachwuchs oder die Konkurrenz mit. Otze, Rosa Extra und Der Demokratische Konsum sind Gruppen der gleichen Preislage. Auch sie müssen für Null ouvert spielen. Nur geht es da chaotischer zu. Sie befinden sich immerzu in Auflösung oder im Werden. Überhaupt, man kann nichts auf längere Sicht planen: ständig wandert jemand ab. Nicht GO WEST sondern STAY FOR THE DAY hat deshalb der Rest als Parole ausgegeben.
Da war es ihnen, als grinste selbst der Alte vom Frauenplan herüber. Also trommelt man weiter. Unbeirrt.
DER REST ist eine Tanzkapelle aus Teutonia."

 

(Claus Bach)

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Autor: nbv