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Claus Bachs Bildarchiv: Die deutscheste Stadt
29. Januar 2020 / Radio, Stadtzeit,Mediathek
»Die deutscheste Stadt Deutschlands« - so heißt ein Artikel, der am 19. Januar 2020 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen ist. Verfasst von der Autorin Andrea Hanna Hünniger, die ihre Kindheit in eben jener Stadt verbracht hat. Gemeint ist freilich, man ahnt es schon, Weimar. Nun hat sie ihre Erfahrungen eines Besuchs der Stadt vom Oktober 2019 aufgeschrieben. Jenem Monat, in welchem ein Teil der Berliner Mauer auf dem Theaterplatz temporär nachgebaut wurde.
Freilich eine wunderbare Vorlage für ein Resümee der letzten 30 Jahre. Einerseits war das erwartbar. Andererseits nicht. Denn allein schon der Untertitel des Artikels verrät die Richtung: »Plattenbau-Gürtel auf der einen Seite, neue Museumsmeile auf der anderen. Reiche westdeutsche Unternehmer hier, ostdeutsche Arbeitslose da...«. Neben den bekannten Goethe-, Schiller-, Bach-, Liszt-, Buchenwald-, Gauforum- und Bauhaus-Textklaviaturen teilt die Autorin die Kleinstadt in »Weimar eins« und »Weimar zwei«. »Weimar eins« meint das ostdeutsche Weimar, Nummer zwei das gesamtdeutsche. Genau das entspricht Hünnigers Erfahrung und macht den gesamten Text zu etwas Besonderem. Denn es gelingt ihr, die brutalen existentiellen Umbrüche und Verwerfungen in den Biografien vieler Weimarer der frühen 1990iger Jahre zu beschreiben. Im Speziellen am Beipiel des Lebens ihrer Mutter, einer promovierten Agrarwissenschaftlerin. Die Arbeit verlor sie 1990, als ihr Institut geschlossen wurde. »Von da an lief ich ihr hinterher - auf Arbeitsämter und Umschulungen. Es war ein Desaster.«
Des weiteren spannt die Autorin einen großen Bogen zur Gegenwart und beschreibt die Mentalität der zugereisten Westdeutschen: »Denn wie in Gesamtdeutschland bleibt der Westen auch in Weimar am liebsten unter sich, auch im gesellschaftlichen Leben. Denn wie erklärst Du einem Ostdeutschen: Ich schicke meinen Sohn nach Salem. Einem Internat, das 35.000 € im Jahr kostet...«
Polit-Extreme profitieren freilich auch in Weimar von derartigen Entwicklungen. Hünnigers Bilanz fällt mutwillig schonungslos und außerordentlich ernüchternd aus. Allerdings verfällt sie dabei bisweilen in den Tunnelblick dröger holzschnittartiger »Ost-West-Looser-Winner«-Polarisiererei. Das mag wahrscheinlich ihrer Vita geschuldet sein. Unterschlägt aber jene zu Unrecht, die sich vor Ort ihre Existenzen mühsam aufgebaut haben. Und die sollen sogar erfolgreich sein. Unabhängig geografischer Herkunft und Sozialisation. Und davon gab und gibt es nicht wenige.
Noch ernüchternder allerdings ist die Bebilderung des Artikels. Ein vermeintliches Foto von Plattenbauten entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Fassadendetail des Studentenwohnheims am Jakobsplan. Was mitnichten typisierte Platte, sondern Spezialbau war. Und die Rückansicht des Dichterdenkmals bei romantisierendem Sonnenaufgang ist noch deplazierter, weil beliebig austauschbar. Diese Bebilderung hat Hünnigers Artikel nicht verdient.
(Claus Bach)
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